Sozialwirtschaft am Limit - Die Versorgung der Bevölkerung kann bald nicht mehr abgesichert werden

Martin Mölders

Dieses Positionspapier zum Thema Sozialwirtschaft am Limit aus dem Jahre 2021 hat nichts an seiner Aktualität verloren:

Wie unter einem Brennglas hat die Pandemie bzw. die Maßnahmen zur Eindämmung in den letzten Monaten die Angespanntheit der Situation in der Sozialwirtschaft schlagartig in den Fokus aller Beteiligten gerückt. In vielen Bereichen und Situationen war die Versorgung insbesondere alter und kranker Menschen oder von Menschen mit Behinderungen durch den Ausfall von Mitarbeiter/innen nicht mehr möglich. Ähnlich in den Bereichen der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Dienste und Einrichtungen wurden geschlossen oder massiv eingeschränkt. Insbesondere in stationären Einrichtungen mussten Bundeswehr, THW oder andere Hilfsorganisationen aushelfen, um eine Grundversorgung abzusichern. Massive Hilferufe über die Medien waren bisweilen Ausdruck zunehmender Hilflosigkeit.

Diese Wochen und Monate haben uns einen Vorgeschmack auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte gegeben, in denen diese Zustände zur Normalität werden – eine Normalität, die heute schon in Ansätzen spürbar ist. Täglich werden auch von großen Verbänden bereits Dienst geschlossen oder eingeschränkt, Einrichtungen müssen trotz Wartelisten Kapazitäten frei lassen, weil vorgegebene Personalschlüssel nicht eingehalten werden können.

In den kommenden Jahren wird die Generation der sogenannten Babyboomer aus dem Arbeitsleben ausscheiden, das sind rund 13 Millionen überwiegend gut ausgebildete und gutverdienende Menschen. Mit der derzeit auf den Arbeitsmarkt kommenden Generation Z, zu der man ca. 8 Millionen Menschen zählt, fehlen bereits 5 Millionen Erwerbsfähige, um überhaupt die Zahl der Beschäftigten zu halten.

Mit der absolut und auch relativ zur Erwerbsbevölkerung steigenden Zahl der „Alten“, der steigenden Lebenserwartung und der damit auch zunehmenden Krankheits- und Pflegekosten sind unsere Sozialsysteme schon heute auch finanziell überfordert. Die immer wieder „garantierte“ 40%-Abgabenquote ist ohnehin schon Makulatur und kann nur durch massive Steuerzuschüsse in allen Bereichen der Sozialversicherung eingehalten werden, die zusätzlich zu Beitragserhöhungen künftig drastisch steigen werden. Allein durch die geplante Pflegereform wird der Steuerzuschuss für die Pflegeversicherung von anfangs € 5 Mrd. bis 2030 auf bei gleicher Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben wie in den letzten 10 Jahren auf bis zu € 53 Mrd. in 2030 anwachsen. Der demografische Wandel wird zudem eine Verdoppelung des Beitrages zur Pflegeversicherung von heut 3,05% auf rd. 5,9 % erfordern. Ähnlich sieht es in den anderen Bereichen der sozialen Sicherung wie Krankenversicherung und Rentenversicherung aus. Diese wenigen Zahlen sollen zunächst nur die Größenordnung des Problems verdeutlichen, das unweigerlich auf uns zukommt und auch nicht mehr grundsätzlich abzuwenden ist.

Die Kosten der gesamten sozialen Sicherung, die Finanzierung und der Verteilung der damit verbundenen Lasten, vor allem auch zwischen den Generationen, wird uns zunehmend beschäftigen. Hier geht es jedoch zunächst um die Deckung des absehbar vor allem durch die Alterung der Gesellschaft steigenden Bedarfes an Leistungen in allen Bereichen der Sozialwirtschaft. Insbesondere für Leistungen für Menschen mit Behinderungen, für Kranke, Pflegebedürftige und Menschen mit Hilfe- und Unterstützungsbedarf z.B. im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe trifft der stark steigende Bedarf auf ein insgesamt schrumpfendes Angebot an Arbeitskräften, auch und gerade qualifizierter Arbeitskräfte.

Dieses Problem fehlender Arbeitskräfte lässt sich auch mit der immer wieder geforderten besseren Bezahlung nicht lösen, zumal diese den Vergleich mit anderen Berufsgruppen nicht schein muss. In der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen sind die Gehälter in diesem Bereich in den letzten 10 Jahren deutlich überdurchschnittlich gestiegen (Zahlen vom Bundesamt für Statistik):
Im Krankenhausbereich um 33% auf durchschnittlich € 3.587,- brutto im Monat, in Pflegeheimen um 39% auf € 3.363,- , in Alten- und Behindertenheimen um 21% auf € 3.291,-. Hinzu kommen steuer- und SV-freie Zuschläge und Zulagen. Im Produktions- und Dienstleistungsbereich betrug die vergleichbare Steigerung dagegen nur 21% auf durchschnittlich € 3.286,- Monatsbrutto.
Dass diese Arbeitsbedingungen durchaus attraktiv sind, zeigt, dass allein die Zahl der Altenpfleger/innen seit 2015 um 100.000 auf 624.000 gestiegen ist (Angaben der Bundesagentur für Arbeit) Diese Entwicklungen fanden im Übrigen ohne staatliche Regulierungen und Lohnvorgaben, wie sie derzeit diskutiert werden, statt. Fraglich ist daher, ob weitere Gehaltssteigerungen bei einem sinkenden Arbeitskräfteangebot überhaupt mehr Menschen in diese Bereiche locken kann, zumal auch Industrie und Gewerbe dringend Arbeitskräfte benötigen. Auch die zusätzlichen Kostensteigerungen in diesem Bereich müssen insgesamt erwirtschaftet werden.

Ähnlich fragwürdig sind Vorschläge, die Vollarbeitszeit auf 30 Stunden abzusenken, um den Beruf attraktiver zu machen- mit vollem Lohnausgleich und Erhöhung des gesetzlichen Urlaubsanspruches von 24 auf 36 Tage. Damit würde das zur Verfügung stehende Arbeitsangebot – verglichen mit der Vollzeitarbeit von 40 Stunden -  sofort um 25 bis 30 % reduziert, die Kosten pro Stunde entsprechend steigen! Bei einem Mangel an Fachkräften aus meiner Sicht eine Katastrophe, viele Einrichtungen und Dienste müssten schließen oder die Angebote einschränken. Zwar arbeiten bereits heute sehr viele Beschäftigte in der Sozialwirtschaft in Teilzeit, so dass die Einschränkung nicht in voller Höhe eintreten würde. Der Kosteneffekt würde jedoch voll durchschlagen und über die Eigenanteile der Betreuten in einigen Bereichen zu deutlich höheren Belastungen führen.

Statt die verfügbare Arbeitsmenge zu verringern müsste daher nicht weniger, sondern mehr gearbeitet werden. In der Vollzeitbeschäftigung liegt insgesamt in der Sozialwirtschaft ein großes Potenzial, das es zu nutzen gilt. Dazu müssen jedoch die Rahmenbedingungen, die Ursache für die verbreitete Teilzeit sind, geändert werden. Diese sind sehr vielfältig und können hier nur exemplarisch genannt werden.

Die Arbeitsbelastung ist sicherlich ein wesentlicher Grund, Teilzeit zu arbeiten. Vorgegebene Personalschlüssel, die eine Fachkraftquote vorschreiben, sind daher auf ihre Angemessenheit zu prüfen.

Zudem basieren diese auf Berechnungen, die nicht der Realität entsprechen. So arbeitet eine Vollzeitkraft mit 40 Stunden/Woche vereinbarter Wochenarbeitszeit tatsächlich nach Abzug von Urlaub, Krankheit, Fort- und Weiterbildung sowie anderen Tätigkeiten wie Teambesprechungen Vor- und Nachbereitungen o.ä. zwischen 30 und 32 Stunden. Ausfallzeiten für Betreuung kranker Kinder oder Pflege von Angehörigen kommen hinzu.

Immer umfangreicher werden zudem im Rahmen der zunehmenden Individualisierung von Leistungen für alle Beschäftigten die Erfüllung administrativer Aufgaben wie Dokumentations- und Meldepflichten, die nicht für Betreuungsaufgaben zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sind viele zusätzlich Aufgaben zu erledigen, für die Freistellungen von der eigentlichen Arbeitsleistung erfolgen müssen. Hierzu gehören Aufgaben als Betriebsräte oder Schwerbehindertenvertretungen sowie eine Unzahl an Beauftragungen wie Sicherheits-, Aufzugs-, Qualitäts-, Gleichstellungs-, Medizinprodukte- oder Hygienebeauftragte, Ansprechpartner für Heimbeiräte oder Ausbildung zu Brandschutz- und Ersthelfern. Dass für die eigentliche Betreuungsarbeit immer weniger Zeit bleibt, ist ein wesentlicher Aspekt der psychischen Belastung aller Beschäftigten.

Eine verlässliche und zuverlässige Betreuung der eigenen Kinder im erforderlichen Umfang ist für die Beschäftigten in der Sozialwirtschaft ebenfalls ein großes Problem. Gerade mit kleinen Kindern ist ein Arbeiten an 7 Tagen und über 24 Stunden, insbesondere in stationären Einrichtungen, kaum möglich. Wie problematisch der Wegfall der bestehenden Kinderbetreuung für alle Unternehmen und deren Beschäftigten ist, haben die letzten Monate nachdrücklich gezeigt. Wenn die Erhöhung der Frauenarbeitsquote einen Beitrag zur Lösung des Arbeitskräfterückganges in den kommenden Jahren leisten soll, muss die Kinderbetreuung deutlich ausgebaut werden.

Die bessere Nutzung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials wird daher zwingend notwendig sein, um zumindest eine Grundversorgung der Leistungsberechtigten absichern zu können. Mehr Vollzeitbeschäftigung und weniger administrative Aufgaben sowie Abwesenheitszeiten wären ein Schritt in die richtige Richtung. Bessere Bildung, um die Zahl der Menschen ohne Schulabschluss zu verringern, schnellere und vor allem zumindest kostenlose, besser duale Ausbildung gerade in den sozialen Berufen wären weitere.  Eine Senkung der Akademisierungsquote mit einem größeren Anteil in der beruflichen Ausbildung ist ebenso notwendig – dies trifft auch für Industrie und Handwerk zu.

Eine längere Lebensarbeitszeit kann auf Dauer ebenfalls kein Tabu sein – hier hilft es auch nicht, den kürzlich vorgelegten Bericht des Wissenschaftsrates zu negieren und die Autoren kurzerhand für inkompetent zu erklären. Notwendig sind daneben neue Konzepte, die es ermöglichen, insbesondere in der ambulanten Versorgung ländlicher Gebiete Synergien durch komplexe und übergreifende Leistungsangebote zu erbringen. Leistungen z.B. nach dem SGB V (Krankenversicherung), SGB XI (Pflegeversicherung), SGB IX (Eingliederungshilfe oder auch möglicherweise dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) können in den versäulten Strukturen dauerhaft nicht mehr im bedarfsgerechten Umfang erbracht werden.

Der schrumpfende Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung erfordert eine umfassende Entbürokratisierung, um die Beschäftigten von unproduktiven Arbeiten zu entlasten und durch den Abbau von Umverteilungs- und Kontrollbürokratie mehr Arbeitskräfte für die Erwirtschaftung und Steigerung des Bruttosozialproduktes zur Verfügung zu haben. Wir haben in Deutschland zwischenzeitlich eine Regulierungsdichte in allen Lebensbereichen erreicht, die schnelles und flexibles Handeln unmöglich macht und immer größere Teile des Bruttosozialproduktes absorbiert. Jedes Gesetz und jede Vorschrift muss umgesetzt und verwaltet werden, die Einhaltung kontrolliert werden.

Die Beantragung und Bewilligung von Leistungen wird immer komplexer, Bearbeitungszeiten nehmen zu. Im Bereich der Eingliederungshilfe leistet sich Thüringen gar Doppelstrukturen, indem die örtlichen Sozialämter und das Landesverwaltungsamt für die Genehmigung von Leistungen oder Leistungsvereinbarungen zuständig sind. Bearbeitungszeiten von bis zu 1,5 Jahren frustrieren nicht nur Leistungsberechtigte und Leistungserbringer, sondern auch die Mitarbeiter in den örtlichen Ämtern zunehmend.

Dennoch ist die Tendenz auch in der Pandemie ungebrochen – auch in 2020 ist der öffentliche Dienst gewachsen.

Juni 2021

Martin Mölders, Kreisvorsitzender